«Ich war sieben Jahre alt, als ich das erste Lepra-Geschwür säuberte und mit einem Verband umwickelte», erzählt Kanta Devi, die als freiwillige Gesundheitshelferin Betroffene zu Hause besucht, ihre Wunden pflegt und kontrolliert, ob die Patientinnen und Patienten die Medikamente gegen Lepra vorschriftsgemäss einnehmen. «Meine Mutter war Krankenschwester und selber an Lepra erkrankt, ich begleitete sie von klein auf, wenn sie die Lepra-Kolonien besuchte, und half ihr bei der Versorgung der Wunden. Ich hatte nie Abscheu davor, diese Wunden von anderen Menschen zu berühren und zu pflegen», fährt Kanta fort. Die 50-Jährige entstammt der ärmsten Bevölkerungsschicht, verdient als Kehrichtfrau 8000 indische Rupien (rund 80 Franken) pro Monat, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und arbeitet, seit sie denken kann, als freiwillige Wundversorgerin der Lepra-Kranken. «Meine Eltern waren beide schwer an Lepra erkrankt und von der Gesellschaft geächtet, als sie sich kennenlernten. Beide haben ihr Leben lang nichts anderes gemacht, als Lepra-Patienten zu pflegen. Es grenzt an ein Wunder, dass bei einer so starken Exposition meine drei Geschwister und ich selber nie an Lepra erkrankt sind!»
Sorgfältige Wundpflege ist das A und O
Sorgfältige Wundpflege ist das A und O Wir begleiten Kanta auf ihrem heutigen Rundgang zu den Lepra-Patientinnen und -Patienten in ihrem Quartier. Als Erstes besucht sie Yasha Sharma, die im rot-weiss gepunkteten Kleid auf der rot gestrichenen Treppe vor ihrem Haus bereits auf Kanta wartet. «Guten Morgen!», ruft Yasha der freiwilligen Gesundheitshelferin zu. «Ich bin froh, dass du kommst! An meinem Finger hat sich eine neue Wunde gebildet.» Kanta grüsst Yasha mit einem herzlichen Lächeln zurück und setzt sich auf die unterste Treppenstufe zu ihr. Behutsam nimmt sie deren von Lepra verstümmelten Finger in ihre Hände und streicht über die Wunde. «Ja, ich werde die Wunde reinigen, desinfizieren und verbinden», erklärt sie Yasha. «Hast du die Medikamente genommen, so wie ich es dir erklärt habe?», fragt sie Yasha. «Ja», antwortet diese, «ich nehme die Tabletten jeden Tag.» «Gut so», entgegnet Kanta, «denn du wirst erst gesund werden, wenn du die Tabletten zwölf Monate lang jeden Tag genommen hast.» Yasha nickt und legt ihre Stirn in Falten.
Frauen werden weniger oft auf Lepra untersucht
«Das darf nicht passieren, ich habe schon Zehen und Teile meiner Finger verloren, nur weil niemand gemerkt hat, dass ich Lepra habe. Alle in meiner Familie wurden untersucht und gegen Lepra behandelt, nur ich nicht.» Kanta nickt und sagt: «Leider passiert es so vielen Mädchen und Frauen wie dir, dass sie nicht die gleiche medizinische Versorgung bekommen wie die Männer, weil sie sich nicht von einem Arzt berühren lassen wollen oder weil ihr Mann oder Vater sie nicht von einem Mann untersuchen lassen will.» In diesem Moment kommt Kaushalya Goswami dazu, die für FAIRMED als sogenannte Blockkoordinatorin arbeitet und sämtliche Aktionen rund um Lepra in ihrem Block, also ihrem Gesundheitsgebiet, koordiniert. «Guten Tag, Kanta und Yasha», sagt sie und fügt hinzu: «Ihr sprecht gerade von den Frauen und Mädchen, die nicht rechtzeitig gegen Lepra behandelt werden und deshalb Verstümmelungen davontragen. Wir sind daran, nun alle Hebel in Bewegung zu setzen, dass dieser Missstand, dass Frauen oft weniger gut medizinisch versorgt werden, endlich aus der Welt geschafft wird. Und wir tragen dazu bei, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner von Durg zu Hause besucht werden, damit wir alle Menschen finden, die an Lepra leiden, sodass sie rechtzeitig behandelt werden können und nicht ihr ganzes Umfeld anstecken, ohne es zu wissen.»
Contact Tracing funktioniert noch nicht flächendeckend
Kaushalya seufzt und fährt fort: «Der Staat tut sehr vieles, um Lepra zu eliminieren, und inzwischen wird das nicht mehr als isoliertes Thema gesehen. Aber bei der Umsetzung hapert es: Noch immer wird Lepra zu wenig gut dokumentiert und überwacht, das Contact Tracing funktioniert noch nicht flächendeckend, sodass die Ansteckungsketten nicht unterbrochen werden.» Ausserdem fehle es am Wissen über Lepra, so Kaushalya weiter: «Das Gesundheitspersonal ist noch zu wenig sensibilisiert auf Lepra, die Bevölkerung ebenfalls, und das grosse Stigma, das der Krankheit immer noch anhaftet, führt zu einer grossen psychischen Belastung bei den Betroffenen.» So wie bei Deepa Singh, die wir als Nächstes zu Hause besuchen, nachdem wir uns von Yasha, die uns lächelnd nachwinkt, verabschiedet haben. Deepa Singh sitzt auf dem Bett im Zimmer, das gleichzeitig als Wohn-und Schlafzimmer für die ganze Familie dient. Von ihren Fingern sind nur noch die Überbleibsel der Gelenke, welche die Finger früher mit der Hand verbanden, zu sehen.
Spital ist 180 Kilometer entfernt
«Guten Tag, Kaushalya und Kanta», sagt Deepa. «Ich bin so froh um die orthopädischen Schuhe, die ihr mir letztes Mal gebracht habt. So kann ich wieder sicherer laufen. Und ich bin nicht mehr so traurig, seit du mich jede Woche besuchst, Kanta.» Deepa war depressiv geworden, nachdem sie sich über Jahre zu Hause versteckt hatte und nicht mehr nach draussen gegangen war, weil sie sich so sehr für ihre Krankheit schämte. «Das ist gut», sagt Kanta, «deine Nachbarn haben mir erzählt, dass du ihnen deine Geschichte mit Lepra erzählt hast und dass sie bei den ersten Anzeichen zum Arzt gehen sollen. Damit hilfst du uns, die Krankheit auszurotten!» Bei Deepa war Lepra erst entdeckt worden, als sie an Händen und Füssen bereits irreversible Verstümmelungen erlitten hatte, erzählt Kanta. «Ihre Söhne, mit denen zusammen sie auf engem Raum lebt, wurden mit Lepra diagnostiziert, waren in Behandlung, brachen diese aber vorzeitig ab. Sie wurde nicht untersucht, weil ihr Mann es nicht erlaubte, dass der Arzt, ein fremder Mann, sie nackt sieht. Und als sie vor ein paar Jahren entdeckt wurde, die verstümmelten Hände und Füsse unter Tüchern versteckt, war es zu spät, noch eine rekonstruktive Operation im 180 Kilometer entfernten Spital durchführen zu lassen.»
Über Lepra sprechen – das Tabu brechen!
«Jetzt, da ich nicht mehr so traurig bin, gibt mir meine Geschichte mit Lepra sogar Kraft», erzählt Deepa. «Dass ich mit anderen Menschen darüber rede, gibt mir Hoffnung, dass ich etwas zur Ausrottung der Krankheit beitragen kann. Und ich kann Menschen, die an Lepra leiden, aufmuntern, indem ich ihnen sage: Schaut, ich habe zwar nicht einen einzigen Finger mehr, aber ich bin trotzdem noch nützlich! Dann beginne ich mit ihnen Bhajans (hingebungsvolle Lieder) zu singen und Kirtans (Anbetungen) zu machen, sodass wir die Kraft unserer spirituellen Verbundenheit spüren.»
Nachdem uns Deepa mit glockenheller Stimme eines ihrer Lieder vorgesungen hat und wir uns von ihr verabschiedet haben, machen wir uns auf den Weg zur Familie Agarwal, die nur zwei Strassen entfernt lebt. Auf dem Weg dorthin wundern wir uns, warum Kaushalya sowohl beim Beautysalon als auch beim Schmuckladen haltmachen will. «Als ich mit den Ladenbesitzenden über Lepra gesprochen habe, hatten sie die Idee, sie könnten mithelfen, Lepra-Fälle zu identifizieren, da sie ja immer die Haut ihrer Kundinnen sehen können. So haben sie nun bereits mehrere Kundinnen mit verdächtigen Hautveränderungen zur Lepra-Untersuchung geschickt. Ich will mich kurz dafür bedanken!», erklärt uns Kaushalya
In Durg leiden mehr Kinder und Jugendliche an Lepra
Das dauert nicht lange, einige wenige Minuten später gehen wir mit Kaushalya an unserer Seite weiter und erreichen das Haus der Familie Agarwal, von dem die blasstürkisfarbene Bemalung bereits zur Hälfte abgeblättert ist. Wir besuchen die beiden Schwestern Lakshmi und Aditi, 13 und 15 Jahre alt. «Wie gehts euch?», begrüsst Kanta die beiden. «Es geht uns gut!», antwortet Lakshmi, die Jüngere, und fährt fort: «Mir ist es zwar manchmal etwas übel, nachdem ich die Tabletten eingenommen habe, aber es geht jeweils schnell vorbei, und ich bin froh, dass ich nicht das ganze Zeug bekomme, wenn die Krankheit nicht behandelt wird.» «Wir haben gerade gestern in der Schule einen Aufklärungsworkshop zum Thema Lepra gehabt», sagt nun die ältere Schwester Aditi, «da haben wir die schlimmen Bilder gesehen mit all den verstümmelten Menschen, bei denen die Krankheit viel zu spät entdeckt worden ist!»
Über Lepra zu sprechen braucht Mut
«Habt ihr denn an diesem Workshop auch darüber gesprochen, wer von euch Schülerinnen und Schülern selber an Lepra leidet?», erkundigt sich Kaushalya. Nun machen Lakshmi und Aditi erstaunte Gesichter. «Nein, es hat niemand etwas gesagt, und ich hätte mich niemals getraut», entgegnet Lakshmi, und Aditi nickt und sagt: «Ich auch nicht!» «Nun», sagt Kaushalya, «es wäre interessant, mit den staatlichen Veranstaltern dieses Schulworkshops zu Lepra auch darüber zu reden, wie wir das Stigma der Krankheit überwinden können. Das geht nur, wenn wir die Scham ablegen und darüber reden! Habt ihr gewusst, dass hier in Durg so viele Kinder und Jugendliche an Lepra erkranken wie sonst nirgends in Indien, dass fast jeder fünfte Lepra-Patient ein Kind ist?» «Nein», sagt jetzt Aditi betreten, «das wusste ich nicht. Das würde ja heissen, dass an unserer Schule mit 300 Kindern vielleicht noch ein paar andere Schülerinnen und Schüler Lepra haben – also nicht nur Lakshmi und ich!»
Lepra ist in Indien mit einem grossen Stigma behaftet. Nicht alle Lepra-Patientinnen und -Patienten wollen ihre Identität preisgeben. Wir haben ihre Geschichten anonymisiert und zeigen nur die Menschen mit Bild, die uns dafür ausdrücklich die Erlaubnis gegeben haben, ihre Namen sind jedoch von uns abgeändert worden.