FAIRMED vor Ort: Vor mehr als elf Jahren hast du begonnen, für FAIRMED Indien zu arbeiten. Wie bist du zu uns gekommen?
FAIRMED suchte einen Programm-Manager für das Programm im Bundesstaat Maharashtra, das die Prävention von durch Lepra verursachten Behinderungen vorantrieb. Nachdem das Programm abgeschlossen war, war ich für die nationalen FAIRMED-Programme in Indien verantwortlich und wurde schliesslich im letzten Sommer zum technischen Berater ernannt.
Wie hat sich FAIRMED Indien in der Zeit, seit du für uns arbeitest, gewandelt?
Die grösste Veränderung für FAIRMED Indien war, dass die Spitäler, die wir über die Jahre aufgebaut hatten, von uns unabhängig wurden und wir mit unserer Arbeit den Fokus auf die Prävention und Sensibilisierung von Lepra legten. Wir haben begonnen, für Indien ein eigenes Fundraising aufzubauen, das zum Ziel hat, dass sich FAIRMED Indien eines Tages mit Geldern aus dem eigenen Land finanzieren wird.
Auf welche Erinnerung blickst du besonders gern zurück?
Als wir einen 10-jährigen Jungen wieder dazu bringen konnten, zur Schule zu gehen! Ich hatte einen Anruf von seinem Vater erhalten, der im Dorf Varod im Bundesstaat Maharashtra lebte und an Lepra litt. Er erzählte mir, dass sich sein Sohn seit drei Monaten weigere, zur Schule zu gehen. Ich beauftragte sofort den Blockkoordinator unseres Präventionsprojekts, dieser Geschichte auf den Grund zu gehen. Es stellte sich heraus, dass der Junge in der Schule gemobbt wurde, weil sich herumgesprochen hatte, dass sein Vater an Lepra litt. Unser Team führte Gespräche mit dem Jungen und mit der Lehrerschaft der Schule. So kam es, dass wir an dieser Schule eine Infoveranstaltung über Lepra durchführen konnten, bei der wir über die Früherkennung, Behandlung und Ansteckung der Krankheit informierten und gleichzeitig mit dem Mythos, Familienmitglieder von Erkrankten seien zu meiden, aufräumen konnten. So konnte der Junge, der übrigens gar nicht an Lepra litt, wieder zur Schule gehen.
FAIRMED bekämpft also noch immer das Stigma, das Lepra anhaftet.
Leider, ja. Gerade hatten wir in einem der Quartiere, die unsere Mitarbeitenden betreuen, den Fall einer 36-jährigen Mutter von drei Kindern, die von ihrer Schwiegermutter dazu gezwungen werden sollte, das Haus zu verlassen, weil sie an Lepra erkrankt war. Auch da haben unsere Mitarbeitenden Gespräche mit der Schwiegermutter, dem Ehemann und der an Lepra erkrankten Frau geführt und es schliesslich geschafft, diese Zwangsscheidung zu verhindern.
Wie erklärst du einer Schweizerin oder einem Schweizer, dass eine NGO in Indien auf internationale Unterstützungsgelder angewiesen ist, wenn das indische Bruttoinlandprodukt im Jahr 2024 mit 4,27 Billionen US-Dollar ausgewiesen wird?
Unsere Reichen werden immer reicher, während unsere Ärmsten immer ärmer werden! 40 Prozent des indischen Vermögens ist im Besitz von diesem einen Prozent der Superreichen*. Das zeigt sich auch im Welthunger-Index 2024, bei dem wir abgeschlagen auf Platz 105 von 127 liegen, noch hinter Bangladesch, Sri Lanka und Nepal. So erstaunt es nicht, dass mehr als die Hälfte der indischen Bevölkerung von der indischen Regierung Lebenshilfepakete mit Getreide beziehen.**
Welche Rolle spielt Lepra im indischen Gesundheitssystem?
Besonders die arme und marginalisierte Gemeinschaft leidet noch immer stark an Lepra, weil eine so grosse Stigmatisierung und Diskriminierung mit der Krankheit verbunden ist. Aus Scham und Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden, gehen die Menschen nicht zum Arzt, wenn sie die ersten Zeichen von Lepra an sich feststellen. Ein grosser Teil der Arbeit unserer Mitarbeitenden besteht darin, die Menschen, insbesondere die Frauen, zu ermutigen, sich gegen Lepra behandeln zu lassen und damit zu verhindern, Gliedmassen zu verlieren oder zu erblinden.
Hast du bereits Pläne, was du nach deiner Pensionierung machen möchtest?
Ich würde gern zusammen mit meiner Frau eine Tour mit dem Motorrad durch den Süden Indiens machen und einen Weg finden, weiterhin zur Ausrottung der Lepra beizutragen.
*Pradhan Mantri Garib Kalyan Anna Yojana (PMGKAY) | Official Website of Department of Food and Public Distribution, Ministry of Consumer Affairs, Food and Public Distribution, Government of India
**WorldInequalityLab_WP2024_09_Income-and-Wealth-Inequality-in-India-1922-2023_Final.pd