März 2025

Die Kehrseite des Bergsteigerparadieses – und was Sabitri mit ihr zu tun hat.

Ein Ausrutscher im steilen Gelände, eine falsche Diagnose und ein falsches Rezept. Sabitri Jogi erzählt alles, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist. Die 58-jährige Frau aus dem nepalesischen Bergdorf Padheri Tole ist an den Spätfolgen eines Sturzes im steilen Gelände erblindet, aber dies ist erst der Anfang ihrer Geschichte.

Zwischen einer halben und einer Million Menschen aus aller Welt, unter ihnen auch zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer, reisen jährlich nach Nepal. Die Bergsteigerinnen und Bergsteiger werden angezogen von der spektakulären Bergwelt, die von den majestätischen Gipfeln des Himalaya, mitsamt dem Everest, gekrönt wird. Wer innere Ruhe und Inspiration sucht, findet in Nepal eine unvergleichlich friedvolle und allgegenwärtige Spiritualität, die geprägt ist von gastfreundlichen Menschen, Begegnungen mit Tiefgang und jahrhundertealten Tempeln und Klöstern. Was dabei leicht übersehen wird: Für sehr viele arme Menschen in Nepal ist das Leben, besonders in den Bergen, eine Gratwanderung – nicht selten zwischen Leben und Tod. Wer krank wird oder verunfallt, muss oft stunden- bis tagelang laufen, um die nächstgelegene Klinik zu erreichen – nur um dort festzustellen, dass wichtige Medikamente oder qualifiziertes Personal fehlen.

Falsche Diagnose in der Apotheke

So wie Sabitri Jogi, Mutter von vier erwachsenen Kindern und Ehefrau des Geistheilers im Dorf. Sie war eine junge Mutter in ihren Zwanzigern, als sie vor 25 Jahren im Wald in der Nähe ihrer Hütte Holz sammelte, dabei auf dem regennassen, steilen Weg ausrutschte und kopfüber in ein Gebüsch fiel, wobei ein Ast ihr rechtes Auge durchbohrte. Da es keine Strasse vom Dorf in die Stadt gab, schaffte Sabitri es nur bis zur nächstgelegenen Apotheke, wo ihr eine Salbe verschrieben wurde. «Sie sagten mir, es sei nur eine leichte Wunde, ich solle die Salbe jeden Tag auf beide Augen auftragen. Aber nichts passierte, mein rechtes Auge, das beim Unfall die Sehkraft verloren hatte, blieb blind», erzählt Sabitri. «Einige Jahre habe ich weitergearbeitet, als Tagelöhnerin zusammen mit meinem Mann auf verschiedenen Bauernhöfen der Umgebung. Manchmal sah ich mit dem linken Auge, das noch sehen konnte, etwas verschwommen, aber nichts hätte mich auf den Schrecken vorbereiten können, der mich im Morgengrauen dieses Montags kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag erwartete. Alles war stockdunkel, ich sah auch auf meinem linken Auge nichts mehr – ich war komplett erblindet!»

    Erdbeben und schwerer Bergunfall

    Denken Sie nun, schlimmer hätte es nicht kommen können? Weit gefehlt. Nachdem Sabitri erblindet war, fiel sie als Arbeitskraft weg. «Mein Mann verdiente zu wenig als Tagelöhner in den Feldern und von seinen spärlich bezahlten Tätigkeiten als Geistheiler. Es brach mir das Herz, dass nun meine vier Kinder nicht mehr zur Schule gehen konnten, weil sie nun ebenfalls auf dem Feld arbeiten mussten», seufzt Sabitri. Leider hielt das Schicksal für Sabitris Familie noch weitere Schläge bereit. Vor zehn Jahren zerstörten die schweren Erdbeben die Hütte von Sabitris Familie, so dass die ganze Familie während zwei Jahren in provisorischen Unterkünften hauste, bevor sie mit staatlicher Unterstützung ein Zweizimmerhäuschen aus Zement bezog. «Als wir wieder ein sicheres Dach über dem Kopf hatten, atmete ich auf und dachte, nun geht es endlich wieder bergauf. Doch als mein Mann Resham zum Nachbardorf aufbrach, um Pheri, die Kunst, böse Geister zu vertreiben, zu praktizieren, stürzte er über eine dreissig Meter hohe Felswand ab und lag anschliessend 74 Tage im Koma», erzählt Sabitri. Durch den Aufprall auf seinen Schädel wurde Reshams linke Körperhälfte gelähmt, er konnte sein linkes Bein und seine linken Arme nicht mehr benutzen.

    Kinder verdingen sich im Ausland

    Jetzt konnten Sabitri und Resham beide kein Geld mehr verdienen. «Wir wären einfach verhungert, wenn sich nicht zwei von unseren vier inzwischen erwachsenen Kindern bereit erklärt hätten, in Malaysia Arbeit zu suchen und uns regelmässig Geld zu schicken», fährt Sabitri fort. «Doch die erfreulichste Wendung in unserem Leben passierte vor zwei Jahren. Die Gesundheitshelferin Sharada Magar, die für FAIRMED in Sindhupalchowk arbeitet, ist auf uns aufmerksam geworden. Sie hat uns darüber aufgeklärt, dass wir Anspruch auf finanzielle Unterstützung des Staates haben, und hat uns geholfen, die Anträge auszufüllen. Jetzt bekommen wir jeden Monat etwas Geld und können uns zum ersten Mal seit fast dreissig Jahren wieder Haushaltsvorräte leisten. Es ist ein kleiner Betrag, aber er reicht aus, um die Ausgaben für Öl, Gewürze und Gemüse zu decken. Ich bin so dankbar!»

    Sabitri möchte wieder arbeiten und Geld verdienen

    FAIRMED-Gesundheitshelferin Sharada legt Sabitri in einer vertrauten Geste den Arm um die Schultern, Sabitri strahlt augenblicklich übers ganze Gesicht, als die beiden sich vor der Hütte begrüssen. «Wie geht es dir?», fragt Sharada. «Es geht mir gut, und ich bin so erleichtert, dass wir nicht mehr jeden Tag ums Überleben kämpfen müssen. Natürlich haben mein Mann Resham und ich ein paar Körperteile, die nicht funktionieren. Aber seit wir nun wieder ein stabileres Leben führen können, wächst in uns der Wunsch, wieder zu arbeiten. Es muss doch etwas geben, das wir gemeinsam als starkes Team tun können, etwas, das sich gegenseitig ergänzt. Darüber reden wir nun jeden Tag. Wir schmieden gemeinsame Pläne, wie wir zusammenarbeiten könnten.» «Da werden wir etwas finden», entgegnet Sharada. «FAIRMED bietet Weiterbildungen in verschiedenen Disziplinen an, in denen Menschen mit Einschränkungen neu lernen können, Geld zu verdienen – zum Beispiel mit dem Flechten von Stühlen und Tischen oder der Herstellung von Seifen.»